Im Islam leben - Vorwort von Annemarie Schimmel

Unter allen Religionen und Kulturen ist der Islam diejenige, die im Abendland am wenigsten verstanden und am meisten gefürchtet wird. Es scheint für viele leichter zu sein, sich der bunten Vielfalt des Hinduismus, der unserer Denkweise so fremden Psychologie des Buddhismus oder dem streng dualen Zoroastrismus zu nähern als jener monotheistischen Religion, die schon dadurch für den abendländischen Christen zum Stein des Anstoßes geworden ist, daß sie nach dem Christentum auftrat und den Anspruch stellte, die ihr vorausgegangenen Religionen zu vollenden und zu krönen.

Politische Gründe haben zu einer Vertiefung dieser Aversion geführt, obschon man in den Chroniken des frühen Mittelalters lesen kann, daß die Muslime von vielen christlichen Gruppen des Nahen Ostens als Befreier von einer Diktatur der byzantinischen Staatskirche erfreut empfangen wurden, und obgleich man weiß, daß die Juden im mittelalterlichen Islam als "Schutzbefohlene« (gleich den Christen) eine bedeutend bessere Stellung innehatten als im Europa der gleichen Zeit.

Doch die doppelte Angst - vor der religiösen und der politischcn Bedrohung blieb lebendig, und die letzten Jahrzehnte mit dem immer wieder beschworenen und doch so selten richtig verstandenen Phänomen des wachsenden »islamischen Fundamentalismus« haben die Aversion gegen die letzte der großen abrahamitischen Religionen noch verstärkt, geschürt von oberflächlichen Berichten, die am wirklichen Wesen des Islam vorbeigingen, vertieft auch durch die Gegenwart so vieler Türken in unserem Lande, deren Gedanken so unverständlich scheinen.

Zur gleichen Zeit aber findet man, daß eine wachsende Anzahl von Europäern und Amerikanern zum Islam übertritt - teilweise geleitet von einem mystischen Suchen nach einer sonst verlorenen Einheit, teilweise in der Hoffnung, eine Form der Frömmigkeit zu entdecken, in der sie inneren und äußeren Halt finden - einen Halt, den ihnen die moderne Zivilisation und selbst viele der Kirchen nicht geben können.

Diejenigen, die sich dem Islam anschließen, interpretieren ihren Schritt in verschiedener Weise; denn jeder der zahlreichen Aspekte des Islam hat Menschen angezogen, die nun versuchen, ihren Weg für ihre Mitmenschen zu erklären, wobei nicht selten der Fanatismus des Neubekehrten durchschimmert, der, glücklich, die Wahrheit gefunden zu haben, sich von allem, was er hinter sich gelassen hat, mit Verachtung abwendet.

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